Das Kunstwerk Carlshütte erreicht man von Hamburg Hauptbahnhof bequem mit Bahn und Bus in circa 90 Minuten. Seit 21 Jahren findet die NordArt jedes Jahr den ganzen Sommer über auf dem Gelände der ehemaligen Eisengießerei Carlshütte statt.
Am weißen Tickethäuschen sollte man sich, zusätzlich zur Eintrittskarte, unbedingt den Ausstellungsplan für 1 Euro kaufen, um sich in den Hallen und auf dem Freigelände zu orientieren. Ich weiß jetzt schon, dass ich heute nicht alles werde sehen können. Ich stelle hier auch nur einige Werke vor, die mich besonders beeindruckt haben.
Auf dem Rasen südlich des Eingangs befindet sich eine Skulpturengruppe aus rot-rostigem Eisendrahtgeflecht. Um ein zylinderförmiges Zentrum stehen mehrere filigran gearbeitete lebensgroße Drahtfiguren. Die nach vorn geneigten Körper lassen mich an die globale Vernetzung denken, die uns alle verbindet, wir aber körperlich bewegungslos verharren. Das Werk heißt Degree und ist von Ochirbold Ayurzana aus der Mongolei.
In der Umgebung finden sich weitere Skulpturen, wie z. B. Lotus Talks von Zen Chenggang, den Stempel einer Lotusblüte aus tonnenschwerem spiegelnden Edelstahl, den ich letztes Jahr schon bewundern konnte.
Dies ist ein schönes Beispiel für das Konzept der NordArt, einzelne Kunstwerke über die Jahre mehrmals zu zeigen und an veränderten Plätzen aufzustellen, wo sie eine ganz neue Wirkung erzielen.
Auf dem Weg zur großen Halle erblicke ich am Hüttenweg weitere alte Bekannte: Die zehn jeweils 3,60 Meter hohen Gorillas von Liu Ruowang. Die Gruppe, die seit 2016 die Carlshütte bewohnt, trägt den Titel Original Sin und ist vor kurzem erst von einer Aufstellung vor dem Landtag in Kiel zurück gekommen.
Der in England lebende chinesische Künstler Xi Jianjun stellt in der großen Halle am Eingang zwei riesige Holzobjekte auf: Babylonian ist ein 7 Meter hoher, pagodenartiker Turm, in dem östliche und westliche Kulturelemente zu einem Symbolträger verschmelzen (Katalog).
Das dahinter liegende Objekt mit dem Titel: Parlamentsgebäude zeigt die umgestürzte Kuppel des Kapitols. Das handwerklich beeindruckende Holzmodell einer überholten Renaissance Architektur, die einmal für Macht und Herrschaft stand, soll die Welt im Widerstreit zwischen Ewigkeit und Vergänglichkeit, Ordnung und Chaos, Frieden und Gewalt (Katalog) symbolisieren.
Im Raum hinter dem Parlamentsgebäude prangert Hu Xiangdong satirisch kitschig in übergroßen Gemüsedarstellungen die Wachstumsgesellschaft und zunehmende Rohstoffausbeutung an. Der in Peking lebende Künstler posiert daneben jeweils mit passenden oder unpassenden Handwerkzeugen, um Größenwahn und Rücksichtslosigkeit ad absurdum zu führen: Großer Blumenkohl, Großer Rettich, Große Aubergine, Große Tomate. Gruß an den Großen Vorsitzenden!
Gute Kunst sollte neue Sichtweisen ermöglichen und offen sein für Interpretationen ohne uns zu belehren. Der Chinese Qin Chong stellt in der Nachbarhalle die 51 Fahnen der Vereinten Nationen auf und reduziert dabei ihre Farben auf entsprechende Grauwerte. Die Installation wirkt wie eine riesige dreidimensionale Schwarzweißfotografie und entrückt die Szene aus Realität und Zeit. Für mich liegt die Deutung nahe, die Vereinigung der Nationen zu entzaubern und die Mitglieder zu ermahnen, den Prozess der Völkerverständigung Wirklichkeit werden zu lassen.
Wie jedes Jahr finden auch thematische Präsentationen statt. Der Länderfokus richtet sich dieses Jahr auf Frankreich: Im französichen Pavillon werden unter dem Titel Some of us Zeichnungen, Objekte und Videos der letzten 20 Jahre von mehr als 150 Künstlerinnen gezeigt. In zwei Abteilungen (x und y) zeigt Kurator Jerome Cotinet-Alphaize ausschließlich weibliche Künstler. Ich fand hier z. B. ein kleines, entzückendes Guache-Bild mit der Darstellung eines gemachten Doppelbetts und dem Titel: Les Parents von Anne Brégeaut.
Im Sonderprojekt Mongolei sind diesmal 22 KünstlerInnen vertreten. Unter dem Thema In der Welt sein findet eine interessante Begegnung von Spiritualität und Moderne statt, die im westlichen Kunstgeschehen wenig vertreten ist. Neben der oben bereits erwähnten Außenskuptur Degree finde ich besonders die Verwendung von Keramik und den kalligraphischen Ansatz interessant. Odmaa Uranchimeg´s Dialog zweier Buddhabildnisse verkörpern für mich das Thema in sublimer Weise: My inner is the inside.
Im oberen Stockwerk treffen wir auf zwei lebensgroße Häkel-Strick-Skulpturen von Liisa Hitanen aus Finnland, Velie und Weijo.
In ihrer Serie Villagers häkelt sie schon seit Jahren die Bewohner ihres Heimatortes Hämeenkyrö in Lebensgröße. Die langsame Technik ist für sie eine Gegenkraft zur Beschleunigung in anderen Lebensbereichen und die Arbeit in der Gemeinschaft ein wesentlicher Teil ihrer Arbeit (Katalog).
Die Auseinandersetzung mit einer sich verändernden Welt, mit politischen und ökologischen Themen, zieht sich wie ein roter Faden durch die ganze Ausstellung.
Einen weiteren Schwerpunkt bildet in diesem Jahr die Gruppenausstellung der Norddeutschen Realisten in der ACO Wagenremise. Deren Geschichte begann 1989 als Realistensymposium in Kleinsassen mit Beteiligung der VHS Landkreis Fulda, organisiert von Nikolaus Störtenbecker. Programmatisch pflegt die lockere Vereinigung das Malen im Freien alljährlich an verschiedenen Küstenorten Norddeutschlands. Neben Störtenbecker sind weitere 13 KünstlerInnen vertreten. Das perfekt in Szene gesetzte Isländische Panorama in Zylinderform stammt von Christopher Lehmpfuhl, der es pleinair auf einem Vulkan mit den Fingern gemalt hat.
Interessant finde ich die Mischung von monumentalen Bildern und Skulpturen und ganz kleinen Werken. Oft findet man Objekte an unvermuteten Orten im Labyrinth der Carlshütte. Trotzdem wirkt die Ausstellung nicht vollgestellt. Auf 22.000 qm Hallenfläche und 80.000 qm Parkfläche kann sich das Gesamtkunstwerk der Kuratoren Wolfgang Gramm und Inga Aru gut entfalten. Der Besuch lohnt sich!
NordArt
1. Juni bis 13. Oktober 2019
Dienstag bis Sonntag 11 – 19 Uhr
www.nordart.de
Text und Fotos: © Detlef Lemme 2019
Detlef Lemme lebt und arbeitet seit 2001 in Hamburg. Nach Tischlerlehre und Kunststudium in Berlin hat er in Hamburg als Trickfilm-Animator und in Wolfsburg und Erlangen als 3D-Visualisierer gearbeitet.
Seit 2016 ist er wieder in Hamburg als freiberuflicher Künstler tätig. Seine Schwerpunkte sind serielle Malerei, Aquarelle, Zeichnungen, Druckgraphik und Konzeptkunst. Sein Wissen und seine Fertigkeiten gibt er seit 1993 in verschiedenen Zusammenhängen an unterschiedliche Teilnehmergruppen weiter.
„Die Kunst ist eine Lebensaufgabe und eine große Freude besteht darin, sie anderen nahezubringen.“
Detlef Lemme bietet in den Sommermonaten fortlaufend immer dienstags Aquarellkurse im Hamburger Jenischpark und dem angrenzenden Elbufer an, auf Wunsch auch am Wochenende. Geplant sind Ausflüge nach Sylt und in den Spreewald.