„Worin besteht der Unterschied zwischen Handlettering und Kalligrafie?“ Diese Frage wird mir als Schriftkünstler und Referent häufig gestellt. Sie zu beantworten benötigt etwas Überlegung oder auch die Umkehr der Frage: Was ist die Verbindung zwischen Handlettering und Kalligrafie?
Gemeinsamkeiten
Ganz allgemein kann man sagen, dass sowohl Handlettering als auch Kalligrafie im weitesten Sinne zur Schriftkunst gehören. Beide nutzen die 26 Buchstaben des Alphabetes und es wird manuell gearbeitet. In beiden wird sowohl „im Fluß“ geschrieben als auch Buchstaben oder Worte im zeichnerischen Prozess gestaltet. Hier wie dort gibt es durch Linien oder Ornamente besonders hervorgehobene Buchstaben oder Worte.
Es geht stets darum, im weitesten Sinne einen Text, eine Mitteilung oder eine Botschaft schön und attraktiv zu gestalten. In der Art und Weise wie dies geschieht, zeigen sich jedoch die Unterschiede:
Die Werkzeuge
Ganz auffällig ist das Instrumentarium:
Kalligrafen benutzen Schreibfedern verschiedenster Formen oder auch Pinsel und eine Schreibflüssigkeit wie Tinte, Tusche oder Gouachefarbe.
Handletterer verwenden meist Stifte, die ohne größeren Aufwand benutzt werden können. Dazu gehören Brushpens und Fineliner.
Die Buchstaben
In der Kalligrafie gibt es eine Reihe von Schriftarten, die aus verschiedenen Epochen von der römischen Antike bis zum Barock überliefert sind und bis heute geschrieben werden. Dabei liegt das Augenmerk auf den Proportionen, dem Rhythmus und der Gleichmäßigkeit im Schriftbild.
Im Handlettering benutzt man die eigene Handschrift, die durch den Brushpen aufgewertet wird. Auch mit dem Fineliner werden Schreibschriften geschrieben und im nächsten Schritt mit kalligrafischen Merkmalen wie dem Fett-Fein-Kontrast zeichnerisch ausgestaltet. Außerdem werden Alphabete aus verschiedenen Quellen wie z.B. Satzschriften zeichnerisch imitiert. Dadurch ist die Toleranz gegenüber Abweichungen von der Idealform größer, ja sogar erwünscht, es entsteht eine reizvolle Lebendigkeit.
Die Texte
Die Form des Handletterings wird meistens für kurze Texte und Zitate oder auch nur für ein oder zwei Worte eingesetzt. Eine Kalligrafie kann dagegen auch längere Textpassagen umfassen, bis hin zu einem vollständig handgeschriebenen Buch. Inhaltlich tendieren Handletterings eher zu humorvollen oder witzigen Texten und Zitaten, die Kalligrafie deckt das gesamte inhaltliche Spektrum ab.
Der Stil
Die Art und Weise wie Worte oder Texte gestaltet werden ist unterschiedlich. Im Handlettering werden Formen aus vorhandenen Schriften imitiert und weniger formtreu kopiert als in der Kalligrafie. Abweichungen vom Vorbild ergeben sich zwangsläufig und das Schriftbild wirkt mehr „handmade“. Zur reinen Schrift gesellen sich im Handlettering noch dekorative Elemente floraler oder geometrischer Natur. Worte können eine dekorative Einfassung durch Rahmen oder Bänder bekommen. Die Buchstaben und dekorativen Elemente können darüber hinaus mit Licht und Schatten dreidimensional ausgestaltet werden. Handletterings haben häufig etwas comicartiges. Originalität und ein gewisser Witz sind im Handlettering gerne willkommen.
Die Kalligrafie hat eher einen repräsentativen Anspruch. Je nachdem, welche Art von Text gestaltet wird kann sie Würde und Ernsthaftigkeit ausstrahlen, beispielsweise in Urkunden oder Goldenen Büchern. In der Gestaltung eines Blattes benutzten Kalligrafen meist nicht mehr als drei verschiedene Schriften, denen bestimmte Funktionen zugewiesen sind wie Headline, Textblock und Quellenangabe. Im Handlettering sieht man das weniger streng. Hier können auch mehr als drei Schriftarten benutzt werden. So kann von Wort zu Wort oder von Zeile zu Zeile die Art der Schrift wechseln.
Fließende Grenze – noch Kalligrafie oder schon Lettering?
Ehrenbürgerurkunde als Beispiel für eine klassische Kalligrafie
Ein typisches Lettering: etwas verspielt, gleiche Buchstaben, wie z.B. das kleine „e“ dürfen voneinander abweichen.
Im Lettering werden unterschiedliche Schriftarten frei miteinander kombiniert.
Einfluss und Entwicklung
Das Handlettering ist eine Erweiterung der Schrift- und Schreibkunst, genauso wie das Graffiti. Der weniger strenge Blick z.B. auf Proportionen eröffnet einen gestalterischen Spielraum, der fast von allein neue Formen hervorbringt. Längst hat das Handlettering sich in der Gestaltung von Fonts niedergeschlagen, weil man auch in der Werbung gerne auf den informellen Charakter des Handgemachten zurückgreift. Wobei auch in der Kalligrafie die Lust am Experiment und freieren Gestaltung schon immer vorhanden ist. Kreative Kalligrafen sind stets über das tradierte Vorbild hinausgegangen und haben innovative Schriften hervorgebracht.
Das aktuell große Interesse für Handlettering zeigt, dass vom Schreiben und der Gestaltung mit Schrift noch immer eine große Faszination ausgeht. Es könnte durchaus sein, dass gerade die Vernachlässigung des Schönschreibens in der Schule das Interesse für diese manuelle Tätigkeit weckt und dem Schreiben mit der Hand eine besondere Wertschätzung entgegengebracht wird. Das Schreiben von Hand erfährt dadurch sowie durch die Digitalisierung eine Verschiebung vom reinen Nutzen der Schrift zur Übermittlung von Inhalten, hin zur künstlerisch orientierten Anwendung.
Letztlich kann man sagen, dass sich Kalligrafie und Handlettering an einem Punkt treffen:
In der Lust am manuellen Schreiben und in der Freude mit Buchstaben zu gestalten!
Danke-Kärtchen im Handlettering-Style.
Joachim Propfe studierte Farbdesign und Kalligrafie an der Fachhochschule Hildesheim/Holzminden (heute Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst). Dort entdeckte er durch Professor Gottfried Pott seine Liebe zur Schriftkunst. Seit dem Abschluss seines Studiums 1994 arbeitet er freiberuflich als Farb-Designer (Farbkonzepte sowie Beratung für Innen- und Außenarchitektur) und Schriftkünstler für private und institutionelle Auftraggeber in ganz Deutschland. Sein Schaffen umfasst alle Bereiche der Kalligrafie von Schmuckblättern (z.B. Trausprüche, Urkunden) über Slogans und Logos bis hin zu großformatigen Wand- und Raumgestaltungen. Außerdem gibt es sein Wissen und seine Erfahrungen in Workshops weiter. Seine Arbeiten wurden in Zeitschriften veröffentlicht (u. a. Schöner Wohnen, AIT, Letter Arts Review – weltweit führende im Bereich der Kalligrafie). Er ist mit einem Werk in der „Berliner Sammlung Kalligrafie“ in der Akademie der Künste, Berlin vertreten.